Non scholae...
Nahezu jedes Mal, wenn ich im Flieger sitze und der Getränkewagen in meine Richtung herangewuchtet wird, passiert zweierlei:
1. Jemand meint, genau JETZT aufs Klo zu müssen, und will unbedingt
vorbei, was den Prozess der Durstbekämpfung lästigerweise ausbremst.
Aber dazu vielleicht andermal...
2. Ich erinnere mich daran, dass eine meiner Aufgaben im Abitur darin
bestand, die Wahrscheinlichkeit einer Bestellung von Tomatensaft im
Flugzeug zu berechnen.
Von diesem Punkt startend, schweiften meine Gedanken letztes Mal ab zu
der Frage: Hat es mir je etwas gebracht, dass ich weiß, wie man
Wahrscheinlichkeiten berechnet? Muss ja nicht immer die von Tomatensaft
sein...
Nun ja, immerhin, es ist nicht ganz nutzlos, beispielsweise beim Schafkopf. Punkt für die Stochastik.
Aber wie sieht es mit anderen Bereichen der höheren Mathematik aus? Wer
hatte beispielsweise in den letzten Jahren mal das Vergnügen, durch
einen n-dimensionalen Raum zu schlendern? Ganz zu schweigen davon,
dass man ja, gesetzt den Fall, auch einfach seine schönen Tapeten
betrachten könnte, anstatt an ihm herumzurechnen. Und Kurven
diskutieren... ÜBER Kurven diskutieren vielleicht, zum
Beispiel, wenn die Beifahrerin nachdrücklich darum bittet, langsamer
hinein zu fahren, oder wenn ein Kollege diejenigen auf dem Cover seines
Lieblingsmagazins preist. Aber wer, bitteschön, bildet davon jemals eine
Ableitung?
Dass es mit dem, was ich mir dereinst an Physik ins Hirn zimmerte, noch
viel schlimmer aussieht, habe ich gemerkt, als mir einmal beim Umzug
meine Abiturarbeit in die Hände fiel. Da stand unter anderem hier und da
irgendwas von "es gilt:..", dahinter folgten wüste
Kombinationen aus Rechenzeichen und Buchstaben, auch noch aus
verschiedenen Alphabeten - und es erschien mir damals offenbar
selbstverständlich. Heute ist mir weitgehend unklar, wofür die
Hieroglyphen überhaupt stehen, und noch viel mehr, warum sie in dieser
Konstellation angeblich einfach so vor sich hin gelten.
Immerhin, eine wesentliche Erkenntnis brachten mir die zwei Jahre Leistungskurs in diesen beiden Fächern, nämlich die, dass ich mit dem Krempel nie mehr was zu tun haben wollte und ganz bestimmt was völlig anderes studieren würde.
Unabhängig davon: Gerade in den Naturwissenschaften ist der Einbruch
meines Wissenstands gegenüber demjenigen zu Schulzeiten immens.
Ich habe mal den Ratschlag gehört, zur Vermeidung einer mit Ramsch
überladenen Wohnung solle man Sachen, die man gerade nicht brauche,
einfach wegpacken, und wenn man den Karton zwei Jahre lang nicht
aufmache, könne er entsorgt werden. Etwa so funktioniert der Hirn-Entrümpelungs-Automatismus
bei mir. Überflüssiger Wissensballast, der länger keine Anwendung
findet und nur unnötig Kapazitäten beansprucht, wird zunächst in
inaktive Reserve-Hirnregionen verschoben und irgendwann unwiederbringlich gelöscht.
Und was sagt mir all das über den Bedarf eines Durchschnittsmenschen an vertieften naturwissenschaftlichen Kenntnissen?... Genau.
Sprachen - ja, die kann man brauchen. Ein bisschen Geschichtswissen und -bewusstsein
sollte man haben, und auch Rechts- und Sozialkunde können durchaus
nützen. Etwas Sport zwischendurch schadet nicht, ebenso wenig, dass
einem Musik und Kunst auch in der Theorie ein bisschen näher gebracht
werden.
In Maßen ist das alles gut und schön und wichtig. Aber gerade bei den
Naturwissenschaften übertreibt man offenbar etwas mit der Vertiefung.
Die Natur und ich lassen uns gerne gegenseitig völlig in Frieden. Sie funktioniert eigentlich auch so ganz gut, ohne dass ich ihr erklären könnte oder müsste, wie und warum. Und gereichte es etwa beispielsweise mir oder dem Citrat-Zyklus je zum Nachteil, dass ich ihn nie wirklich begriffen habe?
Ich vermute, wenn ich meinen Gedankengang weiter gesponnen hätte, wäre
ich irgendwann so ungefähr zu dem Schluss gekommen, dass es natürlich
bei dem, was man im Gymnasium so treibt, auch um das Lernen an sich
geht, das Begreifen komplexer Zusammenhänge und so Sachen, jajajaja,
schon gut. Aber vermutlich hätte ich weiter resümiert, dass rein
inhaltlich der Stoff im Schnitt bis etwa zur siebten Klasse zum Leben
mit hinreichender Allgemeinwissenbasis mehr als ausreichend gewesen
wäre, und dass alles darüber hinaus nur dann noch eine Rolle spielt,
wenn man sich später tatsächlich in irgendeiner Form darauf
spezialisiert oder bei "Wer wird Millionär" bis zur letzten Frage
durchkommt.
Ja, möglicherweise wäre das das Ergebnis meines Daherdenkens gewesen, doch so weit kam ich nicht, denn ich wurde abgelenkt: Der Typ hinter mir fragte doch tatsächlich, ob er statt des Tomate-Mozzarella-Baguettes nicht etwas Vegetarisches haben könnte!