Kneipensterben
Viel war in den letzten Jahren zu hören und zu lesen über das
Kneipensterben in meiner Heimatstadt. Kleine, schummrige Wohnzimmer mit
Bierausschank scheiden offenbar dahin, nur die grellen Konzepte
überleben.
Vor kurzem aber wurden wir in einem Zeitungsartikel endlich über die Gründe hierfür erleuchtet: Wir, die wir gelegentlich hier oder da Gäste sind, ja, WIR sind schuld. Weil: Wir legen neuerdings mehr Wert auf Qualität in unserer Freizeit, so das Ergebnis einer wie auch immer gearteten Untersuchung. Und: Jene Qualität, heißt es, sei genau das, was uns nur die Großen mit Konzept zu bieten haben.
Wow, endlich erfahre ich mal, was ich wirklich will!
Der Selbstversuch - gezwungenermaßen, denn meine Stammkneipe hat vorübergehend geschlossen - brachte es zutage:
Ich möchte umfassend TV-beworbenes oder völlig exotisches Bier.
Dazu sollte die Getränkekarte stets auf dem Stand aktueller Trends sein
und dementsprechend auch irgendwas mit Holunderaroma oder Bier-mit-wirklich-ALLEM-Mix-Getränke anpreisen.
Das alles schmeckt mir nur, wenn es von einer dynamischen, männlichen Tresenkraft mit Soapstar-Äußerem
eingeschenkt und von einem lächelnden weiblichen Bedienungsengel
serviert wurde, der so tut, als würde er sich über meine Anwesenheit
besonders freuen.
Die Kleidung der beiden sollte möglichst einheitlich sein, nicht dass
man sie irrtümlich für Individuen hält. Keinesfalls dürfen sie sich nach
meinem x-ten Besuch an meine Standardwünsche erinnern oder mich gar irgendwann beim Namen nennen.
Außerdem ziehe ich es vor, von hippem, gerne vorwiegend studentischem
Einheitsbrei umgeben zu sein und nicht durch die Anwesenheit von Leuten
belästigt zu werden, die mein Auge beleidigen, weil etwa ihr Äußeres
eine Vorliebe für Gitarrenmusik widerspiegelt.
Sollte ich mir mal einen Cocktail gönnen wollen (bitte von der o.g.
Tresenkraft mindestens lässig, besser noch akrobatisch zubereitet, sonst
lasse ich ihn SOFORT zurückgehen, weil sich das nämlich auf den
Geschmack auswirkt), möchte ich mein Geld zu zwei Dritteln in Eiswürfel
investiert wissen. Glitterschirmchen und akkurat zurechtgesäbelte
Fruchtschnipsel setze ich ohnehin voraus.
Möglicherweise trinke ich aber auch zuhause mein einheimisches Bier aus der Flasche, bis meine kleine Stammkneipe wieder aufmacht.